Rede des Bürgermeisters anlässlich des Volkstrauertages am 19.11.17

22.11.2017

(Foto: Niedergelegte Kränze der Freiwilligen Feuerwehr, des TSV und der Gemeinde vor dem Ehrenmal in Friedewald)


Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger!

Wer heute durch Deutschland oder Europa fährt, dem fällt es schwer, in den Dörfern und in den lebendigen Städten die Schauplätze der Kriege und der Gewalt des 20. Jahrhunderts zu erkennen. Doch tatsächlich gibt es kaum einen Ort, der im vergangen Jahrhundert nicht Schauplatz von Krieg, Gewalt, Terror und Mord war.

Seit den 20er- Jahren hat das Gedenken an die Opfer des ersten Weltkrieges in ganz Europa in Denkmalen und Soldatenfriedhöfen seinen materiellen Ausdruck gefunden. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges sollte es Jahrzehnte dauern, bis der von Deutschland betriebene Völkermord zu einem wesentlichen Bestandteil der deutschen und gar europäischen Erinnerungskultur wurde. Mit dem Ende der kommunistischen Diktaturen rückten nach 1989 zugleich deren Opfer in Ostdeutschland und Ostmitteleuropa ins öffentliche Bewusstsein. Es wurde zu einer Herausforderung, auch für diese Opfer einen angemessenen Platz in der deutschen und europäischen Erinnerungskultur zu finden.

Als der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge 1919 - kaum ein Jahr nach dem ersten großen Krieg mit seinen Millionen Toten - vorschlug, einen Volkstrauertag einzuführen, ging es vor allem darum, die gefallenen deutschen Soldaten, deren Grabstätten sich oft weit entfernt von ihren Heimatorten befanden, zu betrauern und ihrer zu gedenken. Damals verband man mit der Einführung dieses Tages die Erwartung, dass „eine einheitliche Erinnerung an das Leid des Krieges die Deutschen über die Schranken der Partei, der Religion und der sozialen Stellung hinweg in gemeinsamer Trauer“ zusammenführen könnte.

Seit den 50er-Jahren ist dieser Volkstrauertag dem Gedenken an die Kriegstoten und an die Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen gewidmet. Unter dem Eindruck der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und der zahllosen Opfer entstand das Leitmotiv des Volksbundes, zu einer „Versöhnung über den Gräbern“ beizutragen. Dieser doppelte Anspruch erwies sich als große Herausforderung. Vor allem in den Hochzeiten des Kalten Krieges fiel es leichter, an die Kriegstoten des zweiten Weltkrieges zu erinnern als an die Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands. Mit dem Gedenken an die Kriegstoten aller Nationen leistete der Volksbund einen unschätzbaren Beitrag zur Völkerverständigung über den Eisernen Vorhang hinweg.

1985 hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg nachhaltig beeinflusst, als er den 8. Mai 1945 zuvorderst als einen „Tag der Befreiung von Nationalsozialismus“ beschrieb und nicht vorrangig als Niederlage. Innerhalb von wenigen Generationen hat sich die kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und an das Kriegsende grundlegend verändert. Und der Volkstrauertag entwickelte sich tatsächlich zu einem Tag, der allen Opfern politischer Gewalt gewidmet ist, zu denen die Toten der Kriege ebenso gehören wie die Opfer der nationalsozialistischen Rassenideologie, die ermordeten Widerstandskämpfer, die ins Exil Getriebenen, aber auch die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft und die Opfer von Vertreibungen - in der Vergangenheit wie in der Gegenwart.

Der Volkstrauertag ist vor allem der Rückbesinnung auf Krieg und Gewaltherrschaft und der Trauer um die vielen Millionen Opfer zu allen Zeiten gewidmet. Es ist ein Tag, der Raum bietet für Trauer und Schmerz über all die ausgelöschten Leben. Denn hinter den Zahlen, die sich in vielen Millionen bemessen, stehen Biografien von Menschen, die geliebt wurden, die geliebt haben, die mutig waren oder feige; die unschuldig waren oder sich schuldig machten und die auch Verantwortung für den Tod und das Leid anderer trugen.

Alle Trauer über die menschlichen Verluste, aller Respekt vor dem Sterben und Leiden entbinden uns nicht von der Verantwortung, Fragen nach Verstrickung und Schuld zu stellen. Gedenken und Aufarbeitung sind keine Gegensätze, sondern gehören zusammen: auch um diejenigen würdigen zu können, die als Unschuldige willkürlich verfolgt wurden oder in ihrem Einsatz gegen Gewalt, Diktatur und totalitäre Herrschaft - sei es Nationalismus oder Kommunismus - und für demokratische Rechte und für Freiheit mit dem Leben bezahlt haben.

Nur wenn wir uns auch der Aufarbeitung stellen, können wir das Gedenken vor Vereinnahmungen schützen, die aus Opfern Täter und aus Tätern Opfer machen wollen und Fragen nach Verantwortung und Schuld nicht zulassen. Nur so kann eine Topographie der Erinnerungen entstehen, die gleichermaßen an die nationalsozialistischen Verbrechen, an Völkermord wie auch an die kommunistische Gewaltherrschaft und deren Verbrechen erinnert. Diese bietet zugleich Raum dafür, die Gewalterfahrungen all jener Menschen, die vor Krieg und Gewalt zu uns flüchten, aufzunehmen und diesen Menschen mit Respekt und Mitgefühl zu begegnen.